Am Zoo

Für meinen Vater

„Хабен зи фюнф цент?" 

Der Akzent kam mir bekannt vor. Es konnte nur eine Russin sein, keine Polin oder Tschechin oder wer auch immer aus Osteuropa nach Berlin angeschwemmt wurde. Ich stand an einem Fahrkartenautomaten an der S-Bahn Zoo und hielt meine Brieftasche in der Hand. Seit etlichen Minuten versuchte ich - etwas ungeduldig - dem Automaten einen 5-Euro Schein zu verfüttern, aber es gelang mir nicht. Deshalb weilte ich auf dem Bahnsteig etwas länger als geplant und sah hilflos, wie meine Termin-Verspätung mit jedem abgefahrenen Zug immer größer wurde. 

Ich drehte mich nach Rechts. Nach Wochen und Monaten, die ich in New York verbracht habe, bin ich eigentlich gegen solchen Anfragen völlig immun geworden. Aber ihr Akzent bewegte mich zu einer unüblichen Reaktion und ich sah sie mir an. Nichts besonders. Kastanienbraunes Haar, ein "typisch" russisches Gesicht mit hohen Backenknochen, der rote Lippenstift brachte etwas Farbe. Sie trug offensichtlich kein BH, eine Gitarre hing an ihrer linken Schulter. Aber meine Aufmerksamkeit wurde ganz plötzlich durch das Buch erregt, das sie mit dem rechten Arm fest in ihren Körper presste. Vor meinem inneren Auge sah ich den St. Petersburger Winter, die zugeschneiten Eisenbahngleise und eine sehr fein angezogene Dame, die auf das Sirenengeheul der ankommenden Lokomotive wartete um sich aus lauter Verzweifelung über das Eheleben vor dem Zug zu werfen und somit ihrem Leben ein Ende zu setzen. Лев Толстой. Анна Каренина. "Zurückbleiben, bleiben Sie zurück" - befiel der Lautsprecher. Hat man damals auch solche Ansagen am Bahnsteig gemacht, als ein Zug sich näherte? Hätte Anna Karenina die Ansage gehört? Oder wollte sie nichts mehr hören? Fragen über Fragen gingen durch meinen Kopf, ich fühlte mich völlig hilflos gegenüber so viel Unglück und wusste aus dieser Misere keinen Ausweg. 

Indes wartete die junge Dame neben mir nicht auf die Sirene, sondern auf die 5 Cent. Wenn ich Ihnen die 5 Cent gebe, sagte ich auf Deutsch, versprechen Sie mir, dass Sie nicht vor der S-Bahn auf die Gleise springen? Nein, antwortete sie lustigerweise auf Russisch, ich springe nicht. Sie bekam 20 Cent, das war alles, das ich als Kleingeld hatte. Ich brauche nur fünf Cent, sagte sie, soll ich Ihnen den Rest zurückgeben? Nein, können Sie behalten, ist schon in Ordnung. 

Sie dankte höflich und ich schaute, wie sie die Treppe nach unten verschwand. Dann kam die S-Bahn, ich stieg ein und fuhr schwarz zu meinem Termin.

Leave a comment