La liberté est dans la mémoire: Zur Notwendigkeit des auswendigen Spiels

La liberté est dans la mémoire: 
Zur Notwendigkeit des auswendigen Spiels am Beispiel der Werke von Alexander Skrjabin 

Gedächtnis beginnt mit der Erinnerung. Neben der eigentlichen musikalischen Begabung sind Erinnerungen die entscheidenden Elemente, welche die Persönlichkeit eines Musikers bilden. In den Erinnerungen liegen die Wurzeln der Interpretation, die eine absolut persönliche Annäherung an das vom Komponisten geschaffene Werk bedeutet. Seit den ersten unsicheren Tönen und während des Studiums wird ein Musikerhirn darauf trainiert, vielfältige Strukturen zu speichern und sie in eine feinmechanische Bewegung umzusetzen. Dabei entsteht eine Art spezielles Gedächtnis, das in der Lage ist, visuelle, motorische und akustische Signale gleichzeitig zu speichern. 

Die Verbindung zwischen dem Hirn und dem Klavier ist äußerst kompliziert und verlangt eine jahrelange feinmotorische Ausbildung. Zum Teil lässt sich darin eine Parallele zu einer sportlichen Ausbildung erkennen. Doch im Unterschied zur sportlichen Ausbildung spielt bei einem Musiker die Emotionalität eine absolut entscheidende Rolle. Der Reichtum seiner Gefühlswelt übt einen unmittelbaren Einfluss auf die Qualität seiner Interpretationen aus, bestimmt die Tiefe und die Tragfähigkeit der Interpretationen. 

Aber nicht immer ist der Zugang zu seiner eigenen Gefühlswelt einfach. Viele Erinnerungen sind sehr schmerzhaft und aus purem Selbstschutz neigt der Interpret immer wieder unbewusst dazu, sich an den reinen Notentext zu halten und seine Gefühle auszuklammern. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit der Gefühlswelt des Komponisten, die mitunter sehr düster sein kann und im täglichen Übungsprozess oft Depressionen und Unsicherheiten beim Interpreten auslöst. Die auf dem Papier festgehaltene Musik bedeutet auch Erinnerungen, diesmal Erinnerungen des Komponisten, mit denen der Interpret sich auseinandersetzen muss. Trotzdem führt eine „objektive“, gefühllose Annäherung an ein Musikstück nicht selten zum simplen Abspielen der Noten, eine nach der anderen, wovon das Publikum und der Interpret selbst völlig unberührt bleiben. Erst dann, wenn in jeder Note, in jeder Pause des Musikwerkes ein ganzes Leben, das heißt, das ganze Gedächtnis samt allen Erinnerungen und die ganze Gefühlswelt des Interpreten stecken, wird sein Vortrag zu einem bleibenden Erlebnis. 

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt dabei das Element der Improvisation. Damit ist nicht eine Modifikation des Notentextes während des Vortrags gemeint, sondern eine Improvisation der Annäherung an die Musik. Bekanntlich kann man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, aber in der klassischen Musik wird sehr viel Wert darauf gelegt, die Interpretationen so stabil (was immer wieder „gleichförmig“ bedeutet) wie möglich zu halten. Aber das Spannendste ist, dass die Atmosphäre des Stückes und die Stimmung, die erzeugt werden, unmittelbar vom jeweiligen „jetzigen“ Zustand des Interpreten abhängen. Er kann dies und jenes beleuchten, seine Aufmerksamkeit gilt heute ganz anderen Details des Werkes als gestern. Das macht eine Interpretation im Konzert lebendig und unterscheidet sie von einer CD-Aufnahme, die natürlich immer gleich klingt. Dabei spielt die auswendige Beherrschung des Materials eine entscheidende Rolle, weil eine überzeugende Improvisation nur dann möglich ist, wenn sie nicht kalkuliert ist und tatsächlich aus dem Unbewussten des Interpreten kommt, das jedes Mal völlig neue Bilder und Assoziationen liefert. Solche spontanen Einfälle sind eine wichtige Quelle der Inspiration, die sich auch auf das Publikum überträgt. Ohne diese Inspiration wird das Göttliche in der Musik nicht erreicht, der Zauber des Augenblicks bleibt weg. Eine echte Inspiration kommt nur aus dem Unbewussten, sie bewirkt, dass die im Unbewussten gespeicherte Musik, schon fast wie bei einem Komponisten, durch die Hände des Interpreten fließt und zu lebendigen Klängen wird. Solche Momente lassen sich nicht programmieren und in einem anderen Konzert nicht wiederholen. Sie sind Kinder des magischen Augenblicks. 

Ich will nun versuchen, die hier vorgestellten Thesen am Beispiel von Alexander Skrjabin etwas konkreter zu erläutern. 

Der russische Komponist Alexander Skrjabin (1872-1915) ist aus der Musikentwicklung von der Romantik zur Moderne nicht mehr hinwegzudenken. Sein Schaffen hat die gesamte Musikkultur des 20. Jahrhunderts sehr stark beeinflusst, obwohl er im engeren Sinne keine echte Schule gegründet hatte. Sein Weg führte aber nicht zum Zwölftonsystem der Zweiten Wiener Schule, sondern zur Atonalität und Dissonanz als Ausdruck der Freiheit in der Kunst und insbesondere als Ausdruck seines Unbewussten. Die Dissonanz ersetzt bei Skrjabin die Harmonie und der Akkord (statt der Melodie) wird zum Grundstein seiner Musik. Dadurch wird seine musikalische Sprache ungeheuer komplex. Der Komponist selbst hat einige seiner Werke, wie zum Beispiel die Sonaten NN 6 und 8 nie gespielt, weil er sie schlicht und einfach für unspielbar hielt. 

Seine Musik stellt den Interpreten, neben einer ganzen Reihe von anderen Problemen, vor das Problem des Auswendiglernens, insbesondere bei den späteren Werken. Der Interpret muss aber die gleiche Freiheit im Ausdruck erreichen, die der Komponist beim Schaffen hatte. Der Weg zu dieser Freiheit führt ausschließlich durch das Gedächtnis. Aber wie lernt man solche komplexen Werke, die scheinbar keine innere Logik haben? Zuerst müssen die Strukturen des Werkes begriffen werden. Skrjabin hat es, bei der ganzen Komplexität seiner Sprache, geschafft, die Formen seiner Musik relativ einfach zu halten. Selbstverständlich benutzt er die klassische Sonatenform, die er allerdings mit gänzlich neuen Inhalten füllt. Diese Form, die durch verschiedene Episoden angereichert wird, hilft dem Interpreten, eine sonst nicht zu überblickende Masse des musikalischen Materials, das lediglich auf der Entwicklung eines Akkords beruht und keine melodische Linie aufweist, ganz klar zu gliedern und so einen Leitfaden für das Memorieren zu finden. Dabei benutzt der Interpret drei Arten des Gedächtnisses: das visuelle, akustische und mechanische. Nach einer gewissen Zeitperiode hat sich der Notentext ins Gedächtnis des Interpreten eingeprägt. Er ist in der Lage, das Werk auswendig zu spielen. Aber die echte Freiheit des Vortrags kann nur dann erreicht werden, wenn der Interpret die Musik von Skrjabin zu seiner eigenen macht. 

In einem bestimmten Ausmaß sollte der Interpret allerdings jedes Werk zu seinem eigenen machen. Aber in der klassischen Musik hat dies eine gänzlich andere Bedeutung. In der klassischen Tradition aufgewachsen, die, mit eigener Erfahrung verbunden, dem Interpreten eine Möglichkeit gibt, sich von der Musik tragen zu lassen, stößt der Interpret bei Skrjabin, im Gegensatz zu der klassischen Musik, auf Zusammenhänge, die sich nicht voraussagen lassen. Aber die Erkennbarkeit der Pfade ist auch für die Zuhörer von einer großen Bedeutung. Das „kollektive Gedächtnis“ des Publikums im Konzertsaal unterstützt den Interpreten bei den bekannteren Stücken, da er leichter die notwendige Aufmerksamkeit und Konzentration des Publikums erreicht. Wie die Kinder, die immer die gleichen Märchen hören wollen, freuen sich die Konzertbesucher auf die altbekannten Stücke oder die Komponisten des so genannten „Kernrepertoires“, die sie in einen wohligen Zustand des Wiedererkennens versetzen. 

Aber Skrjabin gehört nicht zum täglichen Brot des Konzertbetriebes, und deshalb ist die Aufgabe des Interpreten doppelt schwer. Es hilft aber, vor dem Konzert einige Worte an das Publikum zu richten, besonders, wenn es sich um ein fachfremdes, aber interessiertes Publikum handelt. Dabei sollte der Interpret nicht die Rolle eines Musikwissenschaftlers einnehmen, der einen Einführungsvortrag hält, sondern versuchen, klar zu machen, warum er für diesen Abend eben diese Werke ausgewählt hat, was ihn an diesen Werken reizt und warum er sie für so wertvoll hält. Diese Interaktion mit dem Auditorium hilft den Zuhörern, die besonderen Belange des Komponisten und des Interpreten zu verstehen, wobei letzterer durch kurze musikalische Beispiele den Zugang zu den Werken erleichtert und so die Hemmschwelle senkt, die bei einer Begegnung mit der unbekannten Musik oft sehr hoch ist, besonders bei einem Komponisten wie Skrjabin, den man auch musikgeschichtlich sehr schwer in eine lineare Entwicklung einordnen kann. 

Obwohl eine gewisse Nähe seiner früheren Werke zu Chopin oder Wagner sich nicht verleugnen lässt, entwickelt er sehr schnell seine eigene Sprache, die sich als absolut einzigartig darstellt. Diese Sprache soll dann zur Sprache des Interpreten werden, wenn er das Publikum in seinen Bann ziehen will. Das Erwerben dieser Sprache wird durch deren Einzigartigkeit erschwert. Bestimmte Hilfskonstruktionen, wie zum Beispiel die Ähnlichkeit der Strukturen bei einem Schubert und einem Brahms, die das Erlernen der Brahmsschen Sprache erleichtern, gibt es bei Skrjabin nicht. Viele solcher Hürden gilt es zu überwinden, bis der Interpret die Sprache vollkommen beherrscht, denn eine spannende Unterhaltung ist wohl kaum möglich, wenn man alle Wörter im Wörterbuch nachschlagen muss. Dieser Lernprozess ist unumgänglich, obwohl er ungeheuerlich anstrengend (psychisch wie physisch) sein kann. 

Skrjabin ist ein Komponist, der ganz aus seinem Unbewussten schöpft und dessen Werke in einem gewissen Sinne eine Art Selbstanalyse darstellen. Dieser Selbstanalyse muss sich der Interpret auch stellen und versuchen, sein Unbewusstes für die Skrjabinsche Musik zu öffnen. Gelingt es ihm, kann er am besten die logischen Zusammenhänge (und die Musik von Skrjabin ist sehr logisch aufgebaut, nur ist das eben seine eigene Logik) begreifen und sich auf diesem Wege die Musik einprägen. Die bei dieser „Selbstanalyse des Interpreten mit Hilfe der Skrjabinschen Musik“ entstehenden Bilder und Assoziationen sind eine große und unabdingbare Bereicherung der Interpretation. Gelingt es ihm aber nicht, die Werke auswendig zu lernen, muss er zu den Noten greifen und der Konzertvortrag wird dadurch gesichert. Die Noten aber versperren den Weg, sie stehen zwischen dem Interpreten und der Musik, seine Aufmerksamkeit wird geteilt, sein Unbewusstes bleibt unberührt. Dadurch wird die dringende Freiheit des Musizierens nicht erreicht. Aber ohne diese Freiheit ist eine überzeugende Interpretation der Sonaten von Alexander Skrjabin eigentlich nicht denkbar. 

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